Anregungen aus Kaustinen


Die Teilnahme am Volksmusik-Festival in Kaustinen (Finnland) diesen Sommer war für alle beteiligten Schweizer Gruppen eine tolle Erfahrung!

Nordische Länder wie Finnland, Schweden oder Norwegen führen uns vor Augen, welch grossen Stellenwert die Volksmusik im allgemeinen Kulturleben haben kann - und was die Voraussetzungen dafür sind: Ein künstlerisches Selbstbewusstsein der Volksmusiker, das sich nicht ängstlich an "etablierten" Musikgattungen misst, sondern gleichwertig an deren Seite steht.

Das allerdings ist nur möglich durch die hochentwickelte und ausgereifte Spielpraxis in diesen Ländern und durch die fundierten Kenntnisse der Volksmusiker über die ethnologische Herkunft und die musikalischen Hintergründe ihrer eigenen Musik. Verglichen damit steckt unsere schweizerische Volksmusikszene - das müssen wir uns einfach eingestehen - noch in den Kinderschuhen! Was könnte dem abhelfen?

Was die Schweiz bräuchte

Das "Folk Arts Center" in Kaustinen ist ein lebendiges Zentrum, das die Erforschung der Volksmusik und die Ausbildung von Laien und Fachkräften gewährleistet. Hier haben Volksmusikanten die Möglichkeit, sich zur musikwissenschaftlichen oder pädagogischen Fachkraft weiterzubilden und können so auf vielseitige Art und Weise dazu beitragen, die Erforschung und allgemeine kulturelle Anerkennung der Volksmusik voranzutreiben.

Hätte die Schweiz ein vergleichbares Zentrum, wäre dies der Ort, wo die bei uns herrschende Kluft zwischen der Musikwissenschaft - die unsere Volksmusikszene gelegentlich beobachtet als studiere sie die Gorillas im Zoo - und der praktischen Szene abgebaut werden könnte. Die heute eher bescheidenen Kenntnisse der Volksmusiker über die Ursprünge, Hintergründe und geschichtlichen Zusammenhänge unserer Musik könnten hier vertieft und damit der Dialog mit den kulturell etablierten Musikgattungen gefördert werden. Schliesslich könnte hier aber auch der Austausch von Musikern stattfinden, der uns auf der Suche nach der "Innovation in der Volksmusik" weiterbringen könnte. Wodurch?


Innovation in der Volksmusik?

Bei uns wird heute unter "Innovation" in der Volksmusik die Angleichung unserer einfachen Dreiklang- und Tonleitermusik an andere Musikgattungen wie Jazz, Funk, Pop, Klassik usw. bzw. an die Volksmusik anderer Länder verstanden. Dabei entstehen oft originelle Sachen, die jedenfalls die Hörgewohnheiten der öfter eher verknöcherten Szene angenehm erweitern und für Neues öffnen. Man muss sich aber fragen, ob hier wirklich von Weiterentwicklung der Volksmusik als Gattung gesprochen werden darf. Gelegentlich hat man nämlich den Eindruck, dass solche Anleihen einem Minderwertigkeitskomplex entspringen, weil man die schlichte Volksmusik als zu simpel, zu eintönig, zu antiquiert empfindet.

Was den derzeitigen Spielstil betrifft, so grassiert die landläufige Auffassung, dass den "urchigen" Volksmusikanten ein ungepflegter Ton und ein unsauberes Spiel ausmachen und halt deswegen ein "Klassiker" nie "urchig" spielen könne. Man findet aber auch das Gegenteil. Da gibt es Gruppen, die in Richtung dynamisch ausgestalteter, klassischer Kammermusik gehen, so weit, bis man ehrlicherweise sagen muss, man würde nun die Musikanten besser durch ein paar klassisch ausgebildete Musiker ersetzen.

Das Fazit: Weder falsche Urchigkeit noch klassisch dynamische "Interpretation" mit edlem Klang trifft den echten, unverwechselbaren Ton des typisch Volksmusikalischen. Und das blosse Einbeziehen von anderen Musikgattungen ist keine Innovation der Volksmusik und auch keine eigentliche Weiterentwicklung, sondern bestenfalls eine Ausdehnung der Volksmusik in die Horizontale, und das wirkt meistens inflationär!

Ich meine, eine wirkliche Innovation der Volksmusik kann nur aus dem Geist der Volksmusik selbst kommen. Und um den zu finden, dürfen wir ein weltweit zeitgemässes Schlagwort aufgreifen, nämlich:


Back to the roots!

In unserer eigenen Volksmusik ruht ein ganzer noch ungehobener Schatz an Möglichkeiten der Weiterentwicklung und Innovation! Zum Beispiel im Bereich der Tanzrhythmen. Heute könnnte man meinen, unsere Volksmusik bestehe nur aus Schottisch, Walzer und Ländler. Wo sind die traditionellen Tänze wie Polka, Kreuzpolka, Mazurka, Galopp, Montferrine/Monfrina oder Hopser geblieben? Wer von unseren Volksmusikanten hat schon von Rheinländer, Aliwander, Polonaise (im 3/4 Takt) oder von Varsovienne gehört? Jede dieser Tanzarten enthält Eigenheiten des Rhythmus, die man im Spiel herausarbeiten und in unserem Gefühl wiederbeleben kann, bei den Spielern, bei den Tänzern, beim Publikum.

Oder das Instrumentarium. Im Lauf des 20. Jahrhunderts ist unser Instrumentarium völlig verarmt. Anhand von alten Fotos lässt sich zum Beispiel feststellen, dass bis Anfang des 20. Jahrhunderts in allen Regionen der Schweiz kaum eine Tanzmusik aufspielte, in der nicht wenigstens eine Geige zu finden war! Aber auch Halszithern und andere Zitherarten wurden gespielt, und natürlich Blechblasinstrumente - die "Fränzlis" sind nichts anderes als ein Ueberbleibsel aus einer Zeit, da in der ganzen Schweiz in solchen Besetzungen gespielt wurde! Auch historische Instrumente wie Sackpfeife, Schwegelpfeife, Drehleier, Trümpi und viele Perkussionsinstrumente (Vgl. Brigitte Bachmann-Geiser, - "Die Volksmusikinstrumente in der Schweiz") warten darauf, wiedereingeführt zu werden. Welche Bereicherung wird unsere Volksmusik erfahren, wenn wir einmal diese entsetzlich sturen Vorstellungen von "Bündner"- oder "Innerschweizer"- Besetzung, die kaum älter als fünfzig Jahre sind, über den Haufen werfen! Nur schon die neue Kombination von solch traditionellen Instrumenten wäre bereits eine Innovation!

Das ist aber nicht alles. Ganz entscheidend ist es, dass wir mit all diesen Instrumenten - ganz persönlich wünschte ich mir die Wiedereinführung der Geige als Haupt-Tanzmusikinstrument - einen Spielstil entwickeln, der aus der Art der Instrumente herauswächst und den Rhythmen unserer eigenen vielfältigen traditionellen Tanzrhythmen gerecht wird. In Kaustinen haben wir spezifisch nordische Spieltechniken auf ihrem Höhepunkt gesehen und gleichzeitig das "Typische" daran unmittelbar wahrgenommen, das auch bei gelegentlichem Einbeziehen anderer Musikgattungen nicht verlorengeht.

Eine Spieltechnik, die das Typische unserer eigenen Volksmusik trifft, müssen wir noch finden. Anfangen können wir zum Beispiel mit der Betonung des Nachschlages bei der Phrasierung der Melodien. Diese Technik kann man in allen Ländern mit einer ungebrochenen Geigentradition sehr ausgereift antreffen. Wir haben es bisher versäumt, unsere spezifisch volksmusikalischen Phrasierungen, eine stimmige Verzierungstechnik, kombiniert mit Elementen der Improvisation und Variierung herauszuarbeiten und auf einen höheren Stand zu bringen. Wenn uns dies gelingt, so wird man von einer Entwicklung innerhalb unserer Volksmusik reden können.

Ganz gewiss wird unsere Volksmusiksammlung von Hanny Christen (siehe "Editorial") eine ausgezeichnete Grundlage für den Rückgriff auf echte Schweizer Tradition bilden. Darüber hinaus brauchen wir aber Musikertreffen jenseits der gängigen Konzertfestivals, an denen jeder bloss seinen Job erledigt und mit der Gage im Sack wieder abreist. Wir brauchen den echten Austausch unter engagierten Volksmusikanten, die an einer Verfeinerung, Differenzierung und Vervollkommnung unseres volksmusikalischen Empfindens und spielerischen Könnens arbeiten wollen. Das braucht ebensoviel Zeit und Einsatz und inspirierendes Talent wie die überzeugende Interpretation anderer Musikrichtungen. Wenn uns diese Entwicklung gelingt, wird unsere Volksmusik samt ihren Spielern jenen Stellenwert im kulturellen Leben erhalten, den sie verdient und in anderen Ländern - wie zum Beispiel in den Ländern Skandinaviens - längst innehat.

Fabian Müller

Herbst 2000


(Quelle: www.muelirad.ch)