von Dieter Ringli  


Einfach im vorgegebenen Takt weiterspielen oder die Regeln ändern? Eine neue Generation von Musikern setzt sich mit der Volksmusik auseinander. Auf sehr unterschiedliche Art. Dieter Ringli schildert die Widerstände und die Gefahren dabei. Vor allem aber die Chancen, Tradition und Innovation frei zusammenspielen zu lassen.


Seit einigen Jahren steht die Schweizer Volksmusik wieder im Aufwind. Das Interesse an der einheimischen Musiktradition hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen – nicht zuletzt als Folge des Worldmusic-Booms, der dazu verleitet hat, auch nach den eigenen musikalischen Wurzeln zu suchen. In den Printmedien und an Podiumsgesprächen ist vermehrt wieder von Volksmusik die Rede, von einer anderen, neuen Volksmusik, einer, die innovativ und anders sei. Bemerkenswert ist aber, wie still diese Diskussion verläuft. In den audiovisuellen Medien fehlen weitgehend die Beispiele des beschworenen neuen Geistes. Als Thema ist Volksmusik wieder salonfähig, ja fast modisch geworden, die Musik selber hingegen ist es noch nicht. Es fehlt der akustische Tatbeweis eines Aufbruchs, und dort, wo er vorhanden wäre, wird er von einer breiteren Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen oder nicht erkannt. Die zunehmend von allen Seiten gewünschte Erneuerung scheint musikalisch nicht recht vom Fleck zu kommen.
Zwar vollzieht sich seit einigen Jahren ein zweifacher Wandel im Bereich der Volksmusik. Einerseits versucht eine junge Generation innerhalb der Volksmusikszene neue Wege zu beschreiten. Auf der anderen Seite beschäftigen sich Musikerinnen und Musiker aus dem Bereich des progressiven Jazz und der zeitgenössischen klassischen Musik vermehrt mit der einheimischen Folklore. Beiden weht aber immer noch ein rauher Wind entgegen, der auf zwei Missverständnissen beruht: auf der Bewahrungsmentalität der Volksmusikszene und der Geringschätzung durch die Jazz- und Klassikexponenten. Damit die Schweizer Volksmusik wieder erblühen und so einen wichtigen Beitrag zu einer eigenen kulturellen Identität leisten kann, müssen diese Missverständnisse endlich beseitigt werden.

Behüten und bewahren: Volksmusik ist nicht zwingend konservativ, sie ist aber traditionell. Dazwischen liegt ein beträchtlicher Unterschied. Die Schweizer Volksmusik der Gegenwart ist allerdings meist konservativ. Ihre Trägerinnen und Träger – insbesondere die grossen Verbände – haben sich grossteils noch immer einem musikalischen Weltbild verschrieben, in dem jede Veränderung negativ konnotiert ist oder zumindest mit Skepsis betrachtet wird.
Am Anfang des letzten Jahrhunderts hat sich die Volksmusik aber noch ganz anders präsentiert: Die Jodlerklubs waren jung und belebend zur Zeit ihrer Entstehung. Oskar Schmalz, der Initiator, war bei der Gründung des Jodlerverbands 1910 erst 32jährig. Er wurde für seine ersten Jodellieder von den Männerchören heftig angefeindet, weil er in ihren Augen das hehre Schweizerlied zur ‹Tirolerei› degradierte, als er ihm einen Jodelrefrain anhängte. Jodlerklubs, entstanden aus den Doppelquartetten der Turnvereine, die an den Turnerabenden für Stimmung und Unterhaltung sorgten, waren die frische, ungekünstelte Alternative zu den schulgemässen, kunstreichen Männerchören. Aber nicht nur die Jodlerklubs waren erfrischend zu jener Zeit. Auch die Ländlermusik hatte eine ganz andere Bedeutung: Ländlermusik war ‹Punk› am Anfang des Jahrhunderts, als sie sich in den Städten durchzusetzen begann: schnell, laut, schräg, besoffen – ein Kulturschock für die Salonmusikidylle der gehobenen Städter, die sich solche Klänge nicht gewohnt, und eine Offenbarung für die unteren und mittleren Bevölkerungsgruppen, die von dieser Energie begeistert waren. Jede Art von Volksmusik war einst neu, frisch, lebendig und innovativ zum Zeitpunkt ihrer Entstehung. Und weil immer wieder Neues entstanden ist, war diese Lebendigkeit stets ein Kennzeichen der Volksmusik bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst dann stagnierte sie in ihrer Entwicklung, denn in den Jahren nach dem Krieg fand in der Trägerschicht der Volksmusik ein folgenschwerer Paradigmenwechsel statt: Vorher hiess Tradition ‹Eigenes entwickeln auf den Grundlagen des Überlieferten›, nach dem Krieg ‹Bewahren des Bisherigen›.
Lebendigkeit, Offenheit und Experimentierfreude der ersten Jahrhunderthälfte wichen in den Nachkriegsjahren dem Geist des Behütens und Bewahrens. So lässt sich denn in den 1950er Jahren eine klare Reduktion der Besetzungsvielfalt feststellen. Bis zur Jahrhundertmitte verbreitete Instrumente wie Geige, Trompete, Posaune oder Tuba verschwanden zusehends, und fortan galten vor allem Kontrabass, Handorgel und Klarinette als authentisch schweizerisch. Auch musikalisch ist seit dieser Zeit ein Stillstand unverkennbar. Während Jahrzehnten wurden kaum mehr neue Rhythmen, Harmonien oder Melodietypen entwickelt, sondern der ideologisch bereinigte Stand der 1950er Jahre ausgefeilt und perfektioniert. So konnten die Akteure der Volksmusikszene zwar die Musik konservieren, aber nur zum Preis, dass die einheimische Volksmusik ihre Funktionen als Generationen übergreifende Tanz- und Unterhaltungsmusik vielerorts verlor und zu einer eher musealen Angelegenheit wurde. Diese Haltung hat die Volksmusik schliesslich in eine Sackgasse geführt. Sie hat den Anschluss an die musikalischen Entwicklungen der Zeit verpasst und sich auf eine reine Bewahrungsposition zurückgezogen.
Der Berner Chansonnier Mani Matter hat schon vor Jahrzehnten in einem Gedicht eine Abkehr von dieser Haltung gefordert:

«was unsere väter schufen
war
da sie es schufen neu
bleiben wir später
den vätern
treu
schaffen wir neu»


Eine neue Generation: Seit rund einem Jahrzehnt macht sich nun eine neue Generation von Volksmusikantinnen und Volksmusikanten bemerkbar, die bereit ist, diese Forderung einzulösen. Diese Generation, die in den 80er und 90er Jahren aufgewachsen ist, entstammt nicht mehr einem reinen Volksmusikumfeld, sondern ist bikulturell herangewachsen und in ihrer Adoleszenz – neben der meist zu Hause gepflegten Volksmusik – mit Rock und Popmusik, Jazz und Klassik vertraut geworden, wie andere ihres Jahrgangs auch. Auch haben sie ihr Instrument nicht nur autodidaktisch und im Familienkreis erlernt, sondern daneben auch professionellen Unterricht besucht und zum Teil sogar eine Berufsausbildung absolviert. Diese junge Generation ist offen gegenüber Neuem und versucht, sich Anregungen aus anderen Sparten und Ländern zu holen und wieder an die Zeit zu Anfang des 20. Jahrhunderts anzuknüpfen. Überzeugend sind solche Versuche vor allem dann, wenn nicht bloss der musikalische Stil, sondern auch der Geist jener Zeit kopiert wird, denn der Stil ist heute genauso weit entfernt von der Aktualität wie die konservative Volksmusik, weil sich die Hörgewohnheiten in den letzten hundert Jahren massiv verändert haben. Offenheit, Selbstbewusstsein und Experimentierfreude auf der Grundlage des Überlieferten vermögen aber auch heute noch zu begeistern.
Kapellen und Gruppen wie Pareglish, Hujässler, Pflanzplätz oder Doppelbock, aber auch der Schwyzerörgeler Marcel Oetiker oder die Jodlerin Nadja Räss gingen und gehen erste Schritte in diese Richtung: Sie nehmen die Volksmusik ernst, kennen sich aus mit den Gepflogenheiten der traditionellen Musik, scheuen sich aber nicht, das Überlieferte zu verändern und neu zu gestalten. Sie brechen trotzdem nie mit der Tradition und bewahren so einen nahtlosen Überlieferungszusammenhang, der, auch wenn manchmal noch mehr Experimentierfreude wünschbar wäre, unabdingbar ist für eine nachhaltige Erneuerung der Schweizer Volksmusik.

Einfach ist nicht primitiv: Das zweite Missverständnis, mit dem die Volksmusik – meist von Seiten der musikalisch Gebildeten – konfrontiert wird, ist jenes, dass ihre musikalische Struktur anspruchslos sei. Volksmusik ist zwar formal simpel, jedoch deswegen nicht einfältig. Es ist verfehlt, der Volksmusik ihre einfache Struktur vorzuwerfen. Wir schätzen auch nicht Mozart geringer, weil seine Harmonik weniger komplex war als die von Gustav Mahler. Dass sich die Volksmusik einfacher musikalischer Formen bedient, heisst keineswegs, dass sie primitiv ist. Die einfache musikalische Struktur ist nicht ein zu behebender Mangel, sondern der Boden, auf dem sie gedeiht. Charakteristische Volksmusikanlässe wie ‹Stubete› – eine Art volkstümliche Jam-Session – oder spontanes gemeinsames Singen gelingen nur, wenn die Musik bekannten Schemen folgt. Aber auch in ihrer Form als Tanz- und Unterhaltungsmusik sind der Volksmusik enge Grenzen gesetzt punkto Komplexität. Allzu experimentelle Musik verhindert spontanes laienmässiges Musizieren und Tanzen – und auch die Identifikation.
Die schlichte Form ist aber im Grunde bloss nebensächlicher Ausgangspunkt. Das Wesentliche vollzieht sich auf der Ebene der Ausführung. Volksmusik ist keine ‹Opus-Musik›, ihre Stücke keine Werke, keine Kompositionen im klassischen Sinn, nicht die in Notenschrift fixierte Vorstellung eines Individuums, sondern blosser Rahmen für den Musizierakt.
Das bedeutet nun aber nicht, dass Volksmusik einfach zu spielen oder zu begreifen wäre.Wie in fast jeder Musik bedarf es langjähriger Praxis, um sie zu beherrschen. Die regional unterschiedlichen Gebräuche der Interpretation in all ihren Feinheiten versteht nur, wer sich eingehend damit beschäftigt hat. Ad hoc-Ausführung von unbekannten Stücken – eine grundlegende Erfahrung der Volksmusik – erfordert vertiefte Kenntnis von Verzierungspraxis und Stehgreifspiel, die man sich nur durch jahrelange Ausübung aneignet. Diese Fertigkeiten der Volksmusikanten werden von aussen oft unterschätzt, weil sie wenig spektakulär sind und nur von Kennern gewürdigt werden können. Aussenstehende werden keinen Unterschied bemerken, wenn die Begleitfiguren holprig sind und die Ornamentierungen stereotyp, genauso wenig wie ein Opern-Kenner einen Hip Hop Beat beurteilen kann oder ein Heavy Metal Fan die Interpretation einer Brahms-Symphonie. Jede Musik hat ihre eigenen Qualitätskriterien, wenn sie nach den Kriterien anderer Musiken beurteilt wird, so erscheint sie primitiv. Dies ist aber nicht ein Problem der jeweiligen Musik, sondern der falschen Kriterien.

Spontanes und lebendiges Musizieren:
Volksmusik bietet weniger vergeistigte Ergötzung und sublime Labung mittels vielschichtiger musikalischer Strukturen und Abläufe, sondern eher Entspannung, Erfrischung und Befreiung durch spontanes, lebendiges Musizieren. Dort liegen ihre Qualitäten. In der Volksmusik ist die emotionale Einbindung der intellektuellen Herausforderung klar übergeordnet. Daraus einen grundsätzlichen Qualitätsunterschied abzuleiten, ist jedoch willkürlich und ideologisch. Bratwurst und Bier am Lagerfeuer bereiten nicht den Gaumenkitzel eines Zwölfgang-Menus, die Erlebnisqualität und die Befriedigung, die wir dadurch erhalten, können aber durchaus grösser sein. Schach ist intellektuell eine weit grössere Herausforderung als Fussball. Trotzdem wird kaum behauptet, Schach sei Fussball als Sport grundsätzlich überlegen, und es gibt kaum Bestrebungen, die Fussballregeln so abzuwandeln, dass das Spiel die geistige Komplexität von Schach erreicht. Warum also soll das im Musikalischen geschehen? Gute Volksmusik bietet echtes Leben. Wer artifizielle Komplexität sucht, ist anderweitig besser bedient.
An diesem Missverständnis kranken die meisten Versuche aus den Reihen des Jazz und der zeitgenössischen Klassik: Allzuoft bedient man sich nur gerade des vorgegebenen Materials, ohne sich vertieft mit der Praxis der Volksmusik auseinanderzusetzen, und verpasst so das Wesentliche. Wer neues musikalisches Material im Sinn von Skalen, Harmonien oder Formen sucht für seine Kompositionen oder als Improvisationsgrundlage, der wird bei der Schweizer Volksmusik nicht fündig werden. Eine oberflächliche Übernahme schweizerischer Motive erzeugt bestenfalls eine Prise Heimat-Exotik.Wer sich aber vertieft mit dieser Musik auseinandersetzt, der kann neue Konzepte eines lebensnahen Musikmachens aufspüren, die auch für vielschichtiges experimentelles Schaffen im Rahmen zeitgenössischer Musik fruchtbar sein können. Dort, wo sich die Ausführenden auf eine gründliche Beschäftigung mit der Schweizer Volksmusik einlassen, entsteht wirklich Neues und Innovatives – wie beispielsweise beim Projekt Tien-Shan-Schweiz Express, bei dem 20 Musikerinnen und Musiker aus Kirgistan, Chakasien, der Mongolei, Österreich und der Schweiz gemeinsam Musik machen, wobei die Schweiz durch Musikerinnen und Musiker aus dem Bereich des Jazz und der klassischen Musik vertreten ist, die sich zumTeil lang und intensiv mit der Schweizer Volksmusik befasst haben, aber auch durch solche aus der traditionellen Volksmusik. Was dabei entsteht, ist keine Volksmusik, jedoch faszinierende und anregende, von Volksmusik beeinflusste Musik, die ihrerseits die Volksmusik wieder weiterbringen kann.
Die Schweizer Volksmusik ist also weder konservativ noch einfältig; sie ist auf gutem Weg. Langsam beginnen die Neuerungen zu greifen und die beschriebenen Missverständnisse sich aufzulösen. Allerdings braucht es für eine tiefgreifende Erneuerung noch etwas Geduld. Was jahrzehntelang versäumt worden ist, lässt sich nicht in zwei, drei Jahren aufholen. Die Weichen aber sind gestellt, und wir dürfen – endlich wieder – gespannt sein auf die weitere Entwicklung der Schweizer Volksmusik.


Dieter Ringli studierte in Zürich Musikwissenschaft, Musikethnologie und Philosophie. Heute arbeitet er als Oberassistent am Musikethnologischen Archiv der Universität Zürich und als Dozent an der Musikhochschule Luzern. 2003 verfasste er eine Dissertation über Schweizer Volksmusik im Zeitalter der technischen Reproduktion.


(Quelle: Kulturmagazin Passagen Nr 42, herausgegeben von der Pro Helvetia)