von Jürg Röthlisberger, Jodler

Die Jodlerjury des Eidgenössischen Jodlerverbandes EJV ist eine eigentliche Jurymaschine. Die Naturjodler werden benachteiligt. Ihre urtümliche Art des Singens wird vom Verband nicht verstanden. Mit Klassierungspunkten kann der echte Naturjodel nicht gedeihen.

Es fuhr mir durch Mark und Bein, als «z’Lipschä Beny» das letztjährige Jodelsymposium eröffnete. Der Vorjodler der jungen Gruppe Natur pur, welche sich dem unverfälschten Muotathaler Naturjuuz verschrieben hat, steckte seine Hände in die hinteren Hosentaschen, trug keine Tracht, stand mit leichtem Ausfallschritt hin und füllte den Saal mit seinem archaisch anmutenden Gesang. Keine Spur von normativem, typisch jodlerischem Verhalten, wie man es sonst von Jodlerkonzerten oder -festen gewohnt ist. Ein Jodler dieser Gruppe liess seinem Schlusston ein Glissando folgen – eine typische Eigenart der Muotathaler.

Die Feststellung eines Referenten des Jodlerverbandes, diese Art von Jodeln falle an einem Wettkonzert aus dem Rahmen, wurde zur Kenntnis genommen. Das kann durchaus so interpretiert werden, als hätte der Jodlerverband noch immer kein Konzept, um mit solch unverfälschten Formen des Naturjodels – im weiteren Sinne mit «alter Volkskultur» – umzugehen.

Neue Schweizer Volkskultur
Wer aber glaubt, Interpreten von (vermeintlich) «neuer Volkskultur» hätten es einfacher, sieht sich getäuscht. Der Gesang und das Auftreten von Christine Lauterburg hatte in Jodlerkreisen für Empörung gesorgt. Ihre schrägen Vokale, das spontane Singen fernab von jeglichen Regeln des Jodlerverbandes fallen gleichermassen aus dem Rahmen. Blendet man die Begleitmusik ihres «Muotathaler Zwiegesangs» aus und fokussiert auf ihre Eigenart des Jodelns, kommt sie dem echten Muotathaler Juuz aber näher als manchem Verbandsmitglied lieb sein kann.

Die Vokalisation ist – der Überlieferung entsprechend – vielfältig, auch sie schliesst mit einem Glissando ab. Ein Unterschied, und das ist bemerkenswert, liegt in der öffentlichen Wahrnehmung: Lauterburg wird als Vertreterin der modernen, «der neuartigen Volkskultur» wahrgenommen, währenddessen Beny Betschart in Fachkreisen attestiert wird, die alte, heute vielfach in Vergessenheit geratene Art des Muotathaler Juuz zu pflegen. Wie gehen Volksmusiker mit solchen Situationen um? Was ist wirklich neu an der Schweizer Volkskultur, was wurde aber nur als «neu etikettiert»? Werden wir Jodlerverbandsmitglieder den Statuten, welche unter anderem den Erhalt des Brauchtums fordern, zu wenig gerecht?

Eine Zustandserklärung
 Im Vergleich zu früheren Zeiten finden Schweizer Volksmusik und Brauchtum ganz allgemein mehr Beachtung in den Medien und somit auch in der Bevölkerung. Klingende Beispiele, was unter dem Oberbegriff «Neue Volksmusik» gemeinhin verstanden wird, liefern auch die Ländler- und die Alphornszene.
In der Bevölkerung entsteht schnell einmal der Eindruck, die Volkskultur und deren Verbände seien heute nicht mehr so konservativ, man sei offener gegenüber Neuem geworden, der viel genannte Staub sei weggeblasen. Dies hängt meines Erachtens stark mit medialen Einflüssen und dem Trend der heutigen Gesellschaft hin zu Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit zusammen. Wenn wir Volksmusikanten auf der Bühne, im gleissenden Scheinwerferlicht neue Volksmusik präsentieren, uns um Qualität, teilweise sogar um Perfektion bemühen, heisst das aber nicht, dass wir hinter der Bühne im Umgang miteinander aufgeschlossen sind und in dieser Art Qualität in der Brauchtumspflege suchen.

Was die Kommunikationskultur, den Umgang mit gut gemeinter Kritik angeht, habe ich in verschiedenen Sparten der Volksmusik grosse Unterschiede wahrgenommen. In der Innerschweizer Ländlerszene haben Dani Häusler und Markus Flückiger mit der Formation Hujässler Akzente gesetzt. Sie bewegen sich gekonnt im Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, ohne das eine gegen das andere auszuspielen. Ihre Ausstrahlung erschöpft sich nicht im rein Musikalischen, in virtuos vorgetragenen Kompositionen, welche hohe Ansprüche an Musikanten und Zuhörer stellen. Auch was die Kommunikation, den offenen Umgang mit alter und neuer Volksmusik anbelangt, gehen die Hujässler ihren eigenen Weg. Auf ihrer Homepage veröffentlichen Häusler und Flückiger auch Kritik, die an sie herangetragen wird. Sie zeigen einen offenen, unverkrampften Umgang mit Lob und Kritik, was viele Interessierte zu Gedanken anregen kann. Gedanken über die Wurzeln, die Entwicklung der Volksmusik, aber auch zum eigenen Beitrag, den viele Musikanten leisten.

So entstehen fruchtbare Gespräche, in denen es nicht darum geht, mit seiner Meinung richtig oder falsch zu liegen. Vielmehr geht es darum, einander zuzuhören, einander zu sensibilisieren und besser verstehen zu lernen. So ist es nicht erstaunlich, dass Teilnehmende von Ländlermusikfesten auch dann von einer entspannten Atmosphäre berichten, wenn im einen Lokal urchige Ländlermusik zu hören ist und in der Beiz gleich nebenan andersartige Volksmusik ertönt, welche oftmals als modern, schräg oder neu bezeichnet wird. Mir scheint, als hätten die Ländlermusikanten früher oder später erkannt, dass umfassende Förderung der Volkmusik mehr verlangt als die Organisation von Kursen, Konzerten, Verbandsanlässen und PR-Massnahmen, die an der Öffentlichkeit entsprechend wahrgenommen werden. Man hat zusätzlich am Klima für Offenheit, gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz gearbeitet. Dass Leute wie Häusler und Flückiger auch mal in der Lage waren, gegenüber Verbandsfunktionären Klartext zu sprechen, unterstreicht ihr vielseitiges Repertoire auch in dieser Hinsicht. Die Tatsache, dass am Ländlermusikfest Vorträge nicht bewertet und so für junge Musikanten und Zuhörer ein nicht wertender Zugang zur vielfältigen instrumentalen Volksmusik ermöglicht wird, dürfte ein wesentlicher Grund sein.

Die Jodlerjury ist eine Maschine
In der Jodlerszene hingegen sind seit Jahrzehnten Tendenzen auszumachen, die auf eine gegenläufige Entwicklung hindeuten. So geniessen die Bewertung mit Punktzahlen und die Klassierung von Vorträgen am Jodlerfest nach wie vor Priorität in den Köpfen vieler Verbandsmitglieder. Damit eng verbunden ist die Vorstellung, man müsse Jodelvorträge derart genau «messen» können, dass Resultate vergleichbar sind. Diesbezüglich werden heute enorme Anstrengungen in der Aus- und Weiterbildung von Jurymitgliedern unternommen. In diesem seit Jahrzehnten angespannten Klima, in dem auch schon heftige Konflikte selbst unter Jurymitgliedern gedeihen konnten, gibt es für Subjektivität keinen Platz mehr. Die Bewertung hat objektiv zu erfolgen, sie darf nicht angreifbar sein, man will diesbezüglich unter allen Umständen Ruhe hinter der Bühne bewahren. Was vor der Bühne so erfolgreich als neu und zeitgemäss dargestellt wird, soll nicht durch Misstöne getrübt werden.

Das Rollenverständnis des Jurymitglieds hat sich in einem schleichenden Prozess über Jahrzehnte hinweg negativ entwickelt. Etwas überzeichnet dargestellt, sind heute im Juryteam «Bewertungsmaschinen» gefragt, die zu jeder Tageszeit gleichwertig ersetzbar, fehlerlos und mindestens in sachlichen Belangen allwissend sind. Hat ein Juryneumitglied sämtliche Prüfungen bestanden, wird es eingesetzt. Aus Sicht der Basis herrscht praktisch Nulltoleranz, auch wenn es um die gesanglich-musikalische Leistungsfähigkeit von Jurymitgliedern selbst geht. Hier wird die Höchstklasse erwartet, ansonsten sofort Zweifel aufkommen, ob denn dieses Mitglied wirklich als Jurymitglied tauglich sei. Die Folgen dieser schleichenden Fehlentwicklung sind nicht ausgeblieben: Im Vergleich zu Jodlerkursen der 80er-Jahre haben heute theoretische Grundlagen, beispielsweise Musiktheorie, stark an Bedeutung gewonnen. Kaum ein Kursangebot, in dem nicht etwas über Notenlesen, Rhythmenklatschen, Harmonielehre und Intervallebestimmen vorkommt.

Der Grund liegt wohl weniger in der dringenden Notwendigkeit, sondern in der Tatsache, dass man solche Fähigkeiten messen und prüfen kann. In diesem Zusammenhang hat die Bedeutung des Papiers, des Schwarz-Weiss-Gedruckten, zugenommen. So machte ich als Komponist bereits vor Jahren die Feststellung, dass Partituren zwar während 364 Tagen zur Brauchtumsüberlieferung und als Grundlage genügen, um ein Lied einzustudieren. Nicht aber für den 365. Tag! Da sind hin und wieder Anpassungen gefragt, weil es eben um ein Wettkonzert geht. Die Wünsche reichen vom sinnvollen Hinweis bis hin zu bedeutungslosem Kleinkram, als ginge es darum, aus einer Partitur eine Versicherungspolice zu machen. Versichert werden muss offenbar der drohende Verlust der Höchstklasse oder allenfalls ein Softwarefehler jener Bewertungsmaschine, die am Tisch sitzt und auf konstant hohem Niveau Leistung zu erbringen hat.

Gustav Mahlers Zitat, wonach das Beste in der Musik nicht in den Noten stünde, ist vielen Jodlern mittlerweile fremd. Dabei gab es bereits in früheren Generationen warnende Stimmen. Ernst Märki äusserte 1948 anlässlich einer Fachtagung seine Bedenken wie folgt: «Wir müssen aufpassen, dass wir nicht anfangen, nach einem allzubestimmten Schema zu singen. Wir dürfen nicht kleinlich werden, sondern müssen uns unbedingt an die grosse Linie halten.» Seine Worte blieben offenbar gleichermassen unerhört wie jene Robert Fellmanns, welcher an der Umsetzung seiner Jodlerschulungsgrundlage in den 40er-Jahren Kritik übte. Aus einer Schulungsgrundlage, welche eine kultiviertere klingende Form des Jodelgesangs fördern wollte, wurde ein Reglement gemacht. Damit wurde zwar das damals neuartige kunstvolle Jodellied gefördert, gleichzeitig aber der Naturjodel in seiner regionaltypischen Eigenart mehr und mehr beschnitten. Schon damals bewahrheitete sich, dass neu nicht automatisch besser bedeutet.

Naturjodler werden benachteiligt
So ist es heute kaum erstaunlich, dass Naturjodler ihren Unmut über diese Entwicklung in der Jodlerszene äussern. Sie fühlen sich zu wenig verstanden. Im Klima dieser einseitigen, leistungsorientierten Brauchtumsförderung, welche ihren Erfolg primär durch Punkte und Klassierungen offenbart, kann der echte Naturjodel nicht gedeihen. Dass sich dieser Zustand bis in die heutige Zeit als mehrheitsfähig erwiesen hat, stellt uns Aktiven des Jodlerverbandes kein gutes Zeugnis aus. Gibt es auch eine Mehrheit, welche es verantwortet, die geschilderten, seit Jahrzehnten angestauten Probleme unseren Jungjodlern in den Rucksack zu legen? Ausgerechnet unseren Jüngsten, an denen wir uns erfreuen, sie unterstützen, ausbilden und motivieren? Solange in der Jodlerszene diesbezüglich kein Paradigmenwechsel stattfindet, sich keine offenere Gesprächskultur entwickeln lässt, wird sich die Situation nicht entspannen, sondern eher verschärfen. Verantwortungsträger, die bloss relativieren und rechtfertigen, begeben sich auf den Pfad der verbalen Schönfärberei. Das bringt niemandem etwas, schon gar nicht der Pflege des Brauchtums. In den letzten Jahren kamen von Jodlern, welche sich eher ausserhalb des Jodlerverbandes für den Erhalt und die Förderung von Volksmusik einsetzen, erfrischende Impulse.

Der Verein Jodelsymposium, u. a. mit Nadja Räss als Mitverantwortliche, verpasst seinem nächsten Anlass sinnigerweise den Titel «Jodelvielfalt». Dem nicht wertenden Umgang mit dem Naturjodel, dem Jodellied mit allen seinen Facetten wird ein hoher Stellenwert eingeräumt. Gegenseitige Wertschätzung, beherztes Musizieren und eine offenere Gesprächskultur sind Merkmale eines förderorientierten Klimas; sie führen zu einem kollektiven Wir-Gefühl. Es bleibt zu hoffen, dass derartige Impulse wie auch die Entwicklung der Ländlerszene ihre Ausstrahlung in die (Denk-)Stuben der Jodler finden und entsprechend wirken. Dann wird sich in absehbarer Zeit die musikalische Vielfalt des Schweizer Jodelgesangs auch auf den Bühnen der Jodlerfeste eta-blieren. Das wäre dann neu in nachhaltigem Sinne und käme auch unseren Naturjodlern zugute. «Chumm, Beny, nimm no eine!»

 

(Quelle: "Alpenrosen", Ausgabe März/April 2012; auch auf dem "Blog Volkskultur" veröffentlicht)